Referat Diedrich Diederichsen

Gegen die Wirklichkeit. Der Sprung aus der Geschichte und seine Geschichte

Wer von Avantgarde redet, muss von Ungleichzeitigkeit reden. Oder von Zeitmischungen. Wann immer jemand eine Praxis für avantgardistisch hält, spricht er von einer Avanciertheit, ein Fortgeschrittensein in der Zeit gegenüber einem Rest der Welt. In den 1910er Jahren gab es ein globales Gefühl von einer technisch-politischen Zukunftsexplosion, eigentlich war jeder ein Avantgardist und konnte diesen Anspruch eigentlich nur aufrecht erhalten, indem er den anderen überbot. In den 1950er Jahren gab es auf der ganzen Welt ein Gefühl der Rückschrittlichkeit, so dass jeder kleine Schritt schon ein avantgardistischer sein musste. Eigentlich war auch damals jeder ein Avantgardist.

„Das kulturelle Klima in Österreich war grau, kalt und stickig zugleich, die Informationen aus dem Ausland sickerten wie Nebelschwaden ein und wurden von den Altvorderen ignoriert. Jede Art Absicherung vor dem Neuen war zur Zeit des kalten Krieges Gebot; die Überprüfung des Bestehenden fast so etwas wie ein Verbrechen.“ Diese Rede hört man oft. Es ist die Standard-Beschreibung der österreichischen 50er Jahre und aus dieser Beschreibung lassen sich sehr verschiedenartige Negationen, die man sich frei ausdenken könnte, theoretisch ableiten. Es lassen sich aber eben auch sehr viele empirische historische Negationen begründen. Gegen stickige Kälte kann man sein, indem man für azurblaue Sommerhimmel kämpft, aber auch indem man einen dichten Landregen unterstützt.

Diese Beschreibung ist aber nicht nur die Standard-Beschreibung der österreichischen 50er, man hört sie in ähnlichen Worten, mindestens in der gesamten postfaschistischen Provinz, also in Bezug auf die kulturelle Lage in der BRD, der DDR und in Österreich. Aber nur geringfügig anders akzentuiert, erklingt dieses Lied auch in vielen anderen Ländern Europas und der gesamten westlichen Welt, wenn es darum geht ein merkwürdiges Zeitverhältnis zu schildern. Die Künstler sind den anderen voraus, aber nicht so wie sonst, weil sie schneller, hipper, aufmerksamer sind, sondern auf einer ganz tiefen ontologischen Ebene. Sie bewohnen eine andere Wirklichkeit: sie stehen noch im Kontinuum dessen, was man als Zeitgenosse denken kann, die anderen, die Vielen sind in eine abgründige Dumpfheit zurückgefallen. Gerade dadurch, dass sie an der Wirklichkeit nicht teilnehmen, gehören sie zur Geschichte.

Mittlerweile sind Isolation und bornierte Rückschrittlichkeit der 50er Jahre zu einem begehrten Thema von Film und Fernsehen aufgestigen – und zwar in einem merkwürdig fortschrittsmelancholischen Sinn. In Filmen wie „Revolutionary Road“ von Sam Mendes nach Richard Yates oder der vielgelobten und ausgezeichneten Fernsehserie „Mad Men“ von Matthew Weiner und anderen werden Frauenunterdrückung und Rassismus als Spielarten dieser Dumpfheit als ferne, längst gelöste Probleme in eine duftige Verpackung aus akribisch rekonstruierten Fashion-Details und Innenarchitektur zu statuarischen Schauwerten eingewattet und zu einer magischen Welt, in der wahnsinnig viele harte Cocktails und Martinis schon am helllichten Tag durch dichten Zigarettenqualm geschüttet werden, verklärt. Zugleich werden aber auch kleine politische Fortschritte, Zivilisierungs- und Modernisierungsleistungen rekonstruiert und in einer Zeit, in der es davon nicht mehr so viele als Fortschrittserlebnisse zu registrieren gibt, gegen eine Folie der schlechten Alternative hell ausgeleuchtet.

Im Nachhinein erweist sich vor allem ein Detail als besonders schwer vorstellbar: Der Umstand, dass keine Informationen aus dem Ausland besessen zu haben, nicht nur genau dies bedeutet hat, nämlich weniger Informationen und Vergleichsmöglichkeiten besessen zu haben, mithin in einer armen – und daher grauen, nebligen – Welt gewohnt zu haben. Sie ist ja seitdem hinreichend bunt geworden. Nein, vor allem hat dies bedeutet, so etwas wie den Stand der Dinge nicht gekannt zu haben; nicht nur einen konkreten Stand der Dinge, sondern auch so etwas wie einen Begriff vom Stand der Dinge nicht gehabt haben zu können. Der von Adorno in den 50ern so massiv vertretene Begriff des Materialstands, also einer historischen Wahrheit über das künstlerisch Erreichte, Mögliche und Nötige lässt sich in diesem Lichte auch als ein Versuch verstehen, nicht nur der realen Provinzialität und Abgeschnittenheit auf der begrifflichen Ebene etwas entgegen zu setzen, sondern auch als ein, an der Grenze zur Paranoia angesiedelter, Versuch auf diesem Terrain vor allen anderen absolut wachsam zu sein. In Adornos Werk tauchen die Begriffe „Fluxus“ und „Situationismus“ bis zu seinem Tod im Jahre 1969 nicht ein einziges Mal auf, auch die zentralen Akteure der Wiener Avantgarden der Nachkriegszeit kommen bei ihm nicht vor, nicht einmal Warhol, Rauschenberg oder Kaprow. Aber auch bei der Lektüre von Gerhard Richters Gespräch mit Benjamin Buchloh ist es ziemlich deprimierend, wie die Rekonstruktion der Absichten des Künstlers nur über eine mühselige Einzelbefragung danach möglich wird, was Richter denn wann kennen gelernt hätte. Dabei stellt sich heraus, dass es teilweise zehn bis fünfzehn Jahre gedauert hat, bis ein ja auch in den 60er Jahren nicht unbekannter und kaum von der Welt abgeschnittener deutscher Künstler von den wichtigsten internationalen Positionen seiner Generation erreicht worden ist. Die so genannte Wiener Gruppe und beispielsweise die Pariser Lettristen haben auch nichts von einander gewusst, obwohl sich einige Österreicher recht ausgiebig in Paris aufgehalten haben und obwohl beide Gruppen ja eine Geschichte verbindet, die von einer literarisch-performativen Avantgarde schließlich in eine mündet, die eher in der Bildenden Kunst landet und wahrgenommen wird. In vieler Hinsicht ähnelt das Verhältnis Lettristen – Situationisten der Entwicklung von Wiener Gruppe zu Aktionisten. Ob die apokryphe Anekdote stimmt, nach der Hundertwasser einmal von Guy Debord unter Einsatz der Fäuste, aus dem Moineau, dem Stammlokal der Lettristen, hinaus geworfen worden sei, also die einzige bemerkenswerte österreichisch-französische Begegnung im Avantgarde-Milieu der Epoche ein Faustkampf war, sei dahin gestellt.

Wenn man sich aber die Gemeinsamkeit all dieser von einander unabhängig Ähnliches produzierenden Praktiken und Personen in Europa, Japan, den USA, Teilen von Südamerika ansieht, fallen einem neben der gemeinsamen, aktuellen wie retrospektiven Einschätzung von einer vollkommen unangemessenen kulturellen Umgebung, in die man hineingeboren sei, auch die großen Unterschiede auf, die aus dieser Einschätzung abgeleitet werden. Fast überall wird aus der Einschätzung einer unerträglichen Rückständigkeit und Provinzialität, eine dem gegenüber wahre Aktualität abgeleitet. Die deutsche Gruppe SPUR etwa, die sich bald darauf der Situationistischen Internationale anschließen sollte, um kurz darauf wieder ausgeschlossen zu werden, wähnte diese wahre Zeitgenossenschaft ausdrücklich in einem verheißungsvollen globalen Ausland – doch im Ausland empfand man ja ganz genau so, sogar im gepriesenen New York waren es nur eine Handvoll von Aktiven, die später nahezu ausnahmslos berühmt werden sollten. Die Zeit selbst war global so aus den Fugen, dass die Kommunikation von Künstlern mit ihren Zeitgenossen generell ausgeschlossen schien. Es ist also vielleicht an der Zeit die Wahrnehmung des je eigenen Ortes als besonders provinziell, „das sagenhaft zurückgebliebene Bewusstsein im Verhältnis zu dem, was gedacht vorliegt“ , die ja von Erzählung zu Erzählung fortgeschrieben wird bis man sie für ein historisches Faktum hält, selber provinziell zu nennen. Sucht man über diese Besonderheit nach einer Besonderheit der Wiener Avantgarde stellt man nur fest, dass gerade die Provinzialität ein globales Faktum war.

Eine andere Möglichkeit damals bestand zwar darin, einen objektiven Stand der Dinge aus der eigenen künstlerischen Praxis zu extrapolieren: wenn es schon keine fortgeschritteneren Milieus und Zivilisationen gab, auf die man hätte zeigen und von denen man hätte siegen lernen können, dann hätte man versuchen können, aus dem was in Bezug auf die verschiedenen Ideen von künstlerischen Fortschritt schon erreicht worden war, einen Maßstab zu gewinnen. Aber früher oder später konnten Kunst-immanente Maßstäbe nicht ausreichen, es musste ein Denken her, das geschichtsphilosophisch über Kategorien für Fortgeschrittenheit und Rückschrittlichkeit verfügte, die das Problem der Zurückgebliebenheit, „den Unverstand der Einzelnen, der Öffentlichkeit“ in eine größere Diagnose eintragen würde. Diese Rolle übernahm fast über all in den oben genannten Weltteilen die hegelianisch-marxistische Geschichtsphilosophie, in je unterschiedlichen Spielarten und in je unterschiedlicher Weise mit einer politischen Praxis und einem künstlerischen Aktivismus verbunden. Hier nun lässt sich tatsächlich eine österreichische Besonderheit konstruieren, die ich auf drei mit einander verbundene Behauptungen herunter brechen will.
1. In Österreich resp. in Wien war die radikale Avantgarde deutlich weniger im Sinne der global erfolgreichen neuen Linken politisiert. Wenn sie eine Geschichtsphilosophie hatte, dann die eines eher mit technisch-wissenschaftlichen Fortschritt vereinbaren Fortschreitens des Denkbaren.
2. Sprach- und kognitionstheoretische Überlegungen spielten eine Rolle, die sie anderswo nicht spielten. Selbst bei den eher erfahrungs- und körperorientierten Akteuren gab es einen Begriff von Erkenntnis, der nichts mit der politischen Erkenntnis oder Lesbarkeit von Verhältnisse zu tun hatte
3. Dennoch ist aber gerade die – zumindest in einem marxistischen Sinne – nicht politisierte Wiener Avantgarde besonders massiv von der Staatsmacht verfolgt worden, so massiv wie wahrscheinlich keine politisierte künstlerische Avantgarde in irgendeinem anderen westlichen Staat. Erst die Verfolgung des Critical Arts Ensemble bzw. ihres Mitglieds Steve Kurtz im letzten Jahrzehnt wäre in ihrer repressiven Energie vergleichbar.

Diese Behauptungen gilt es nun zunächst zu überprüfen, um dann, wenn etwas von ihnen übrig bleiben sollte, zu fragen, was es mit dieser Besonderheit auf sich hat. Die literarische Avantgarde der 50er kennt zunächst bohemistische Orientierungen, die sehr lange Konstanten künstlerischer Politik im Westen sein sollten – und kaum als gänzlich unpolitisch zu beschreiben wären; zum einen den „protest gegen das konventionelle, anonyme, normative, der sich jedoch weniger durch eine aggression nach außen als durch ein dokumentiertes, subjektiv bedingtes anders-, eigensein ausdrückte“ , wie Gerhard Rühm es für die frühen Nachkriegsjahre notiert. Dann wäre der pazifistische Protest gegen die Wiederbewaffnung zu nennen, der sich die Gruppe anschloss, was nicht zuletzt durch ein Manifest von Artmann dokumentiert wurde. Und besonders früh im internationalen Vergleich kommt die Orientierung an nichtbürgerlichen jugendlichen Subkulturen hinzu, die sowohl als Bündnispartner wie aber auch als so etwas wie lebende Vertreter eines neuen Standes der Dinge angesehen wurden: “die welle der alarmierenden ’halbstarken’-debatten ging soeben hoch. wegen verschiedener vorfälle hatten die spiesser wieder einmal schiss bekommen. wir sahen dieses problem auf unsere weise, wir begrüssten das rebellische verhalten; man müsste dem nur eine richtung geben, natürlich die unsre. wiener hatte mancherlei kontakte zu diesen kreisen, bayer auch. es stellte sich heraus, dass sich die halbstarken überraschend für moderne kunst begeistern liessen. ihr jazz-enthusiasmus war ein guter anknüpfungspunkt, er machte sie empfänglich für alles unkonventionelle, „moderne“, sie begannen auf anraten konzerte moderner musik (zb webern) zu besuchen, anarchistische literatur zu verschlingen. verfremdete und erfundene vokabeln, die ihnen wiener und bayer (als en vogue) zuspielten, wurden sofort in ihren jargon aufgenommen – zu unserem nicht geringen wohlgefallen. Da waren noch unverbaute vorurteilsfreie menschen, zu jedem abenteuer bereit. bei artmann wurden die chancen eines staatstreichs mit ihrer hilfe diskutiert, eine diktatur der progressiven jugend über die saturierte, noch von der naziideologie verseuchte ältere generation. wir verteilten bereits die ressorts an uns.“

Eine Revolte samt Staatsstreich mithilfe der Jugend ist eine alles andere als provinzielle Vorstellung, wenn sie tatsächlich im Jahre 1954, was man aus Rühms Erinnerungstext schließen kann, schon so weit gediehen war. Eine Politisierung der anderen einsamen Nachkriegsavantgarden – sieht man von der Surrealismus-Nostalgie bei einigen Pariser Bewegungen ab – begann nicht vor den späten 50ern. Dass die neu entstehenden Jugendkulturen als Bündnispartner angesehen wurden, ist der Zeit sogar fünfzehn Jahre voraus; kaum jemand dürfte sie in welchem Sinne auch immer als progressiv angesehen haben. Alles andere als unpolitisch und alles andere als provinziell stürzt man sich in Pläne zur Umgestaltung der Kulturindustrie nach der Machtübernahme: Liquidierung der Presse, Schließung des Rundfunks „bis zur vollständigen umbesetzung und neugestaltung (…) leuchtreklamen sollten nicht mehr der werbung dienen, sondern rhythmische ’konstellationen’ blinken, kilometersteine semantische signale tragen, die sich beim vorbeifahren zu einem weiträumigen textgebilde zusammenfügen, düsenjäger sollten ’laut- und wortgestaltungen in den himmel zeichnen. Wiener war bereit, das gesamte erziehungswesen total zu reformieren. bei uns wäre alles nach zweck- und profitfreien ästhetischen gesichtspunkten gegangen.“

Warum ist es aber in den folgenden Jahren nicht weitergegangen mit diesem Programm zwischen Revolution und Gesamtkunstwerk? „uns gefiel diese vorstellung so gut“, erinnert sich Rühm, „dass wir, schon im hinblick auf die fade organisationsarbeit gar nicht daran dachten, sie in die tat umzusetzen.“ Und: „die vorstellung war uns immer schon ein ziemlich vollwertiger ersatz für den nachttopf, denn wir haben gepisst wo und wann wir dazu bedürfnis spürten. wir kannten keine rangordnung von ‚wirklichkeiten’.“ Aha, ist man versucht zu antworten, das ist ja verständlich, wer hat schon Lust, die Revolution zu organisieren. Niemand mag die fade Bürokratenarbeit und wer sie einklagen will, ist auf Moralismen angewiesen, die zwar berechtigt sein mögen, aber eben Moralismen bleiben: mit ihnen kann nicht arbeiten, wer gegen das Normative aufbegehrt. Doch erklärt das allein nicht, warum man sich fünf Jahre später eben auch theoretisch und künstlerisch nicht mehr an den oben genannten Vorhaben und Bündnissen interessiert scheint, sondern sich plötzlich oder auch nicht so plötzlich nunmehr mit „sprachwissenschaften, denkmethoden, wittgenstein, den neopositivisten und kybernetik“ beschäftigt. Dies tut man nicht, um „fader Organisationsarbeit“ zu entgehen, sondern um die Ablehnung der „Hierarchien von Wirklichkeit“ und damit den Begriff von Wirklichkeit an sich im Nachhinein theoretisches Material nachzuliefern.

Für Ferdinand Schmatz sind es die je unterschiedlichen Gegnerschaften zur Wirklichkeit, die die beiden Großströmungen der Wiener Avantgarde, den Aktionismus samt Umfeld einerseits und die Wiener Gruppe samt dem ihren unterscheiden und zugleich, so würde ich hinzufügen, einheitlich unterscheiden vom Rest der Nachkriegsavantgarden; denn beide Gegnerschaften sind un- oder antipolitisch, was, wie wir noch sehen werden, nicht heißt, dass sie keine erheblichen politischen Konsequenzen erzielen konnten. Der aktionistische Kampf richtete sich für die Schaffung einer Wirklichkeit durch Kunst und die wiederum in je unterschiedlicher Weise bei etwa Mühl, Brus oder Frohner. Sprache und Begrifflichkeit sind Einschränkungen gegenüber einer als total gedachten, in besonderem Maße körperlichen Erfahrung, die von Künstlerposition zu Künstlerposition anders gefärbt jeweils das Gefängnis des Diskursiven schlechthin durchbrechen will. Bei den zunächst nicht nur sprachwissenschaftlich interessierten, sondern generell zunehmend zum Szientismus neigenden Angehörigen der ersten Wiener Gruppe führt der Weg durch die Sprache über die Sprache hinaus. Gegen z.B. Wittgenstein und das Privatsprachenargument entdeckt Wiener, eine nicht sprach-isomorphes Denken und innere Bewegungen ganz anderer Art, die sich dann im nächsten Schritt aber eben gerade nicht als zu befreiende innere Menschennatur erweisen, sondern angeblich wiederum strukturiert seien wie Turing-Maschinen – um diesen Ansatz, über den, wie ich annehme im Rahmen dieser Tagung schon gesprochen worden sein wird, nur extrem verkürzt wiederzugeben.

Beiden gemeinsam, Wiener als dem zugespitztesten Vertreter der ersten Wiener Gruppe einerseits und den unterschiedlichen Zertrümmerungen der Wirklichkeit zugunsten einer selbst gemachten oder erzwungenen Wirklichkeit der Kunst, der Direktheit und der körperlichen Authentizität andererseits, ist dass sie sich nicht auf den linken Grundsatz einlassen wollen, sich der aktuellen Wirklichkeit erstmal zu stellen. Wirklichkeit, so denkt es ja die linke politische Position und weiß sich dabei nur auf den ersten Blick mit den beiden Wiener Avantgarde-Positionen einig, ist allemal ein ernst zunehmendes Gegenüber, ein veritabler Feind. Doch im Gegensatz dazu hält sie die Erkenntnis der Wirklichkeit für schwieriges Gelände, eine Aufgabe, der anspruchsvolle Beschreibungen wie Diagnostik entsprechen. Die Wirklichkeit ist nämlich in ihrer Position nie ganz im Unrecht, sie ist immer auch zu Recht dort, wo sie ist, denn sie ist ja gegen eine andere falsche Wirklichkeit da angekommen. Sie ist nur undialektischerweise in dieser Richtung einfach dumm geradeaus weiter marschiert, nicht wissend, dass diese Richtung ja nur in Bezug auf den anderen Fehler eingeschlagen wurde, nicht absolut als richtiger Weg. Eine solche Zurechtlegung des Feindes Wirklichkeit richtet sich zwar gegen die konkret wirklichen Verhältnisse, nicht aber gegen einen historischen oder genealogischen Begriff der Wirklichkeit, den hält sie hoch, ja an ihm misst sie die Wahrheit der Kritik, deren „Höhe“ an einer bestimmten Entwickeltheit der Verhältnisse, also einem Prozess festgemacht wird, den man auch unterbieten kann; der auch eine Aufgabe ans eigene Niveau benennt.

Die Wirklichkeitsfeindlichkeit ist in den 50er und 60er Jahren aber auch kein exklusiv Wiener Phänomen; dennoch könnte man sagen, dass ihr Niveau und/oder ihre Intensität weltweit nach Vergleichbaren sucht; vor allem aber ist dies das Besondere: Die Ablehnung des Begriffs der Wirklichkeit führt in allen Protest- und Jugendkulturen des Planeten zwischen 1955 und 1970 zu einem friedlichen Verhalten, seine Anerkennung zu einem aggressiven, militanten. Nur in Wien hat Wirklichkeitsablehnung militant gemacht – und eine politische Antwort, nicht eine der Wirklichkeit provoziert. Wirklichkeitsignoranten wurden anderswo Hippies, nahmen Drogen und orientierten sich an östlichen Religionen oder diesen nachempfundenen After-Religionen. Ihre Tragik war, dass tatsächlich der Begriff der Wirklichkeit – als das nicht Berücksichtigte ihrer Orientierung – ihnen zum Verhängnis wurde: „Wenn die Wirklichkeit Dich überholt, hast Du keine Freunde nichtmal Alkohol, Du stehst in der Fremde Deine Welt stürzt ein, das ist das Ende, Du bleibst allein“, wie die Düsseldorfer Fehlfarben den Nepal-Heimkehrern und Bhagwan-Flüchtlingen am Ende ihrer Epoche dann um 1980 vorsingen konnten . Diejenigen, die den Begriff akzeptierten und seinen konkreten Inhalt mehr oder weniger bekämpften, konnten dagegen im Rest der Welt, von wenigen zu radikalen Ausnahmen abgesehen, Karriere machen, wenn sie ihren Kampf aufgaben, und dies den Marsch durch die Institutionen nennen. Nur in Wien gab es Leute, die den Wirklichkeitsbegriff nicht akzeptierten, darob in heftige Konfrontationen gerieten und deswegen ins Exil gehen mussten.

Auch die verschiedenen Wirklichkeitskritiken, die sich semiotisch, neo-psychoanalytisch, phänomenologisch, ideologie- oder öffentlichkeitskritisch gegen den Wirklickeitssinn und die Wirklichkeitsvereinbarung der Herrschenden oder der herrschenden Meinung richteten, was ja eine aufblühende Richtung der akademischen wie der subkulturellen 60er Jahre ausmachte, taten dies, um ein „falsches Bewusstsein“ politisch anzuprangern, dem eine korrekte Lektüre der Verhältnisse und der von ihnen verursachten Konstruktionen entgegenzusetzen wäre, mithin eine Idee einer wirklicheren, tieferen, wahren Wirklichkeit, der Wirklichkeit der Verhältnisse. Zwar stand nunmehr der Wirklichkeitsbegriff einer commonsensualen Alltagsvernunft zur Disposition, aber selbst noch bei den Anhängern von Anti-Psychiatrie und LSD-Astronautik ging es um Dinge wie Dekonditionieren eines Wahrnehmungsapparats, der ja aus politischen Gründen konditioniert war, so etwa bei psychedelischen Marxisten wie David Cooper . Das Dritte zwischen Eskapismus – ein Begriff und ein Standard-Vorwurf gegen den Wiener in der Verbesserung von Mitteleuropa einen antizipierenden Gegenvorwurf an die Adresse der Ideologiekritik formuliert hat – und Ideologiekritik suchte man vermutlich nur in Wien.

Es ist sicher ein billiger Reflex, an dieser Stelle nach dem Musil im Regal zu greifen, weil man nach einer Wiener Konstante sucht oder gar eine gefunden zu haben glaubt. Dafür wird man aber wenigstens sehr schnell fündig: „Sie haben etwas ungemein Gefährliches begonnen, große Kusine. Die Menschen sind unendlich froh, wenn man sie so lässt, daß sie ihre Ideen nicht verwirklichen können!“ – „Und was würden denn Sie tun“, fragte Diotima ärgerlich „wenn Sie einen Tag lang das Weltregime hätten??“ – „Es würde mir wohl nichts übrig bleiben, als die Wirklichkeit abzuschaffen!“ – „Ich würde wirklich wissen wollen, wie Sie das anfingen!“ – „Das weiß ich auch nicht. Ich weiß nicht einmal genau, was ich damit meine. Wir überschätzen maßlos das Gegenwärtige, das Gefühl der Gegenwart, das, was da ist.“ Dies ist nicht die erste Stelle, an der Ulrich den Begriff der Wirklichkeit und dessen Verwandten, die Gegenwart ablehnt: „Es ist einfach meine Überzeugung (…), daß Denken eine Einrichtung für sich ist, und das wirkliche Leben eine andere. Denn der Stufenunterschied zwischen den beiden ist gegenwärtig zu groß. Unser Gehirn ist einige tausend Jahre alt, aber wenn es nur alles halb zu Ende gedacht und zur anderen Hälfte vergessen hätte, so wäre sein treues Abbild die Wirklichkeit. Man kann ihr nur die geistige Teilnahme verweigern.“ Wirklichkeit als Gegner, als Aufgabe für Diagnostik bleibt mithin den kleinen Geistern vorbehalten, der feine Mann beschäftigt sich mit etwas Anderem. Dieses Andere aber besteht nun in einer nervösen Diagnose dieser Gegenwart, einem beständigen Abgleichen der Realität dieser Irrealität mit den Begriffen des alten Gehirns. Die Aktualität, die gemeinte zeitgenössische Wirklichkeit scheint doch genau, aus der Differenz zu dem zu bestehen, das konstant und alt am Gehirn zu bezeichnen wäre. Aber was das ist und ob es das so gibt, solche Konstanten und solche alten, unangepassten, distanten Komponenten des Gehirns arbeitet ja gerade zeitgenössische Forschung heraus. Sind dann nicht marxistisch-avantgardistische Gegenwartsdiagnose, Lektüre der Verhältnisse auf der einen Seite und das Primat des alten Hirns andererseits nicht zwei Seiten der gleichen Abstandsmessung? Unterschieden nur im Erkenntnisziel?

War denn das Graue und Neblige, das am Österreich der 50er zu beklagen war, eigentlich auch kein aus Verdrängung und Schuld, Zerstörung und Vernichtung gewobenes geistiges Elend, sondern eher die Banalität, eine Banalität, in der die des Bösen und die des Wirklichen sich trafen und schließlich bis zur Unkenntlichkeit mischten? Ist der Spießer – der allgegenwärtige Gegner – ein Vertreter der Schuld oder einer der Blödheit oder sollen wir die Schuld vor allem als Blödheit deuten, ist Niedertracht als Mangel an Intelligenz und Feinsinn zu betrachten?

In Varianten hat diese Frage auch frühere Avantgarden beschäftigt. Ob eine Avantgarde sich als funktional begreift, also in einer historisch nicht näher bestimmten, potenziell andauernden Distanz nicht nur zur Realität einer Gesellschaft, sondern auch zu dem Begriff von dieser Realität, oder ob sie einfach nur einen historischen Fortschritt antizipiert, so dass dieselbe Distanz also mit der Gesellschaft einen Prozess teilt, nur von einer anderen historischen Position aus, war auch die Frage der Dadaisten und Surrealisten. Die Nachkriegsavantgarden aber hätten gelernt haben können, dass Avantgardismus im einen wie im anderen Verständnis sich zum Faschismus, der sein (vorläufiges, historisches) Ende bedeutet, in keiner Weise verhalten konnte. Dass er für diese Gegenwart und diese Tendenz keine Diagnose hatte, hat, so könnte man schlussfolgern, seine Position der Distanz in ein bestimmtes Unrecht gesetzt. Ist vielleicht dadurch zu erklären, dass der Position der Distanz, der Wirklichkeitsleugnung, -distanzierung und –überbietung in den österreichischen Nachkriegsavantgarden von Anfang an ein äußerst aggressiver, konfrontativer Gestus sich beimischte, der zwar die Wirklichkeit leugnete, aber sich mit dem Spießer, also ihrem Vertreter dennoch nachhaltig anlegte? So dass die Distanz gelebt werde konnte, ohne die Quittung der katastrophalen Hilflosigkeit der Vorkriegsavantgarden ausgestellt zu bekommen?

Die eine Synthese dieser Spannung wird sicher im Konzept des Bio-Adapters von Oswald Wiener zu Ende geführt. Hier wird die gesamte Realität ähnlich wie Jahrzehnte später in der „Matrix“ der Wachowski-Brüder als per Simulation ersetzbar gesetzt – in gleichem Maße wie für denselben Autor sich gerade das „zutiefst Menschliche“ als künstlich und berechenbar erweisen sollte. Der linke Einwand, dass Realität eine soziale Vereinbarung sei, aber nur politisch durchsetzbar und zur Durchsetzung von Politik konstruiert, prallt dann daran ab, dass die, die das Soziale ausmachen, auch wie Maschinen berechenbar oder konstruierbar sind. Der Gegeneinwand wäre, dass gerade die soziale Realität, jeder operationalen Version dieses Gedankens regelmäßig Unrecht gibt.
Die andere Synthese sind die Konflikte mit einer neuen Generation linker Autoren und Autorinnen wie Michael Scharang oder Elfriede Jelinek, die 1969 in „manuskripte“ dann eine Gegenfront gegen Alfred Kolleritsch eröffnen, der seinerseits vorher den Versuch gemacht hat, die linke und die antirealistische Revolte zu synthetisieren, und dann doch am Schluss seine Briefes an Scharang die Position einnahm, er würde womöglich doch lieber „wenn es etwas zu besetzen gibt mit dem Peter Handke oder dem Ossi Wiener gehen als mit Dir“.

In dieser Phase ist der Konflikt aber auch schon so gut wie vorbei, weil in den 70ern sich die Haltungen allmählich multiplizieren und nicht mehr als antagonistische Konflikte um die Realität erscheinen. Nach und nach dürfen sogar die Exilierten aus Berlin zurückkehren. Die Vereinsamung der österreichischen Avantgarden hat, genau wie die der meisten anderen Länder der Erde, ein Ende, schon in den 80er Jahre werden sie und die meisten ihrer Mitglieder zuhause und in der ganzen Welt geehrt und ausgezeichnet, wenn nun auch für entweder vergangene oder ganz individuelle Lösungen. Der spezifische andere Antagonismus zwischen Linken und zwei Sorten Wirklichkeitsfeinden geriet womöglich aus dem Blickfeld, vor allem derjenigen, die nach den Spezifika dieser einen Avantgarde-Geschichte suchten.

Es wäre ja möglich, dass eben das Machen von Wirklichkeit mit künstlerischen Mitteln, die Poiesis von Situationen, da, wo sie sich alles andere als in einem kritischen, wirklichkeitsbezogenen Sinne als politisch verstand, eine bestimmte Idee von künstlerisch-revolutionärer Totalität um so reiner zum Ausdruck brachte als dort, wo solche Handlungen noch instrumentell in einem gezielt aufklärerischen Sinne eingesetzt wurden. Situationistische und studentenbewegte totale Handlungen hatten noch diesen didaktischen Kern, der nicht nur an der Situation und dem avantgardistischen Selbstverständnis vorbeiging und der zahlenmäßig ja kleinen Gruppe von Revolutionären eigentlich völlig unangemessen war (viel zu viel oder viel zu wenig wollend); auch theoretisch wäre die performative Aufführung des Zeitabstands – der Avantgarde ja angeblich ausmacht – nicht nur als aggressive Geste gegen den Spießer, sondern auch als Überprüfung des eigenen Selbstverständnisses, ja des Begriffs der Avanciertheit interessanter gewesen als jede Form des Didaktischen. In diesem Sinne haben die Aktionisten und ansatzweise schon die Wiener Gruppe gemacht, wovon revolutionäre Bewegungen in anderen Metropolen träumten. Und es nimmt nicht Wunder, dass Aktionen wie „Kunst und Revolution“, ganz im Gegensatz zu den Intentionen der meisten Initiatoren immer wieder als linke Aktion beschrieben worden sind. Denn sie waren genau die Art Aktion, die eine künstlerische Linke Jahre später retrospektiv immer schon ausgeübt und dann später davon gelernt haben wollte.

Man könnte also meinen, dass die Nichtanerkenntnis der Wirklichkeit völlig unabhängig von den kognitions- und erkenntnistheoretischen Gründen bei Wiener und Wiener Gruppe und den eher anti-diskursiven Gründen bei den Aktionisten linke Aktionen in dem Sinne evozierten, als sie besser als andere die gesellschaftliche Wirklichkeit hervorbrachten und kenntlich machten, zu härteren Reaktionen nötigten als die aufklärerisch absichtsvolle linke Widerspiegelei von diversen Zeitgenossen in anderen Metropolen; also in dem Sinne des vulgär-erkenntnistheoretischen Kalauers, dass man gegen einen Stein treten muss, um seine Realität zu spüren. Letzten Endes gibt es ohne Wirklichkeit keine Geschichte, ohne Geschichte aber keine Avanciertheit: Der Ausgangspunkt der Bewegung war aber die Wahrnehmung ihrer Avanciertheit.

Heute gibt es eine Selbstzuweisung zur Oppositionalität in einer Reihe von künstlerischen Projekten, die sich ganz jeder avantgardistischen Anmaßung enthalten. Den Anspruch vom zeitlichen Abstand, die Arroganz der Avanciertheit will niemand mehr als Position riskieren. Auch da ist etwas Richtiges gelernt worden: die Position der Provokation ist ja tatsächlich zu einer ebenso leeren wie beliebten Macho-Geste heruntergekommen, die nur noch ihren Täter bekannt machen soll, nicht mehr Wirklichkeit markiert. Dennoch kann man sich vorstellen, dass eine bescheidener und sachlicher gewordene künstlerische Opposition von einer Konfrontationsstrategie, die zu wenig oder zu viel weiß, Strategien ausborgen könnte. Die Zeitenmischung, in der wir heute leben, ist nicht mehr die aus Avanciertheit und Rückschrittlichkeit, sondern aus unterschiedlichen Positionen zu globalen Standards und Verkehrsformen, sie ließen sich womöglich in konfrontative Strategien übersetzen, die ebenfalls vor dem Risiko nicht scheuen sollten, etwas Anderes zu erreichen, als man zu beabsichtigen wissen kann. Das wäre im besten Sinne experimentell.

Am Schluss soll noch einmal das Jahr 1955 zu Wort kommen, von dem aus man eine Art historischer Gleichursprünglichkeit des österreichischen Staates wie seiner Avantgarde behaupten könnte. Adorno kommt nach Wien und findet es ruhig vor, erinnert sich aber an seine Jugend und daran, dass es damals in den 1920er Jahren nur in Wien, nicht in Berlin eine wahre Avantgarde gegeben habe. Doch als Jugendlichen habe ihn gewundert, dass diese Wiener Avantgarde in eine uralte semifeudale Großbürgerlichkeit eingepackt war – dies sei ihm, wie er heute, 1955, wisse: naiverweise, als Widerspruch erschienen. Denn: „Allmählich lernte ich verstehen, dass gerade dieser halb naive Befangenheit im Traditionellen die Voraussetzung zum Kühnen, unbotmäßig Zarten abgab. Man musste gleichsam gesättigt sein mit der ganzen Tradition, um sie wirksam negieren, um ihre eigene lebendige Kraft gegen die Erstarrung wenden zu können.“ Die Frage bleibt, inwieweit nicht nur diese Negation, gemeint ist die Musik der so genannten zweiten Wiener Schule, sondern auch die der Nachkriegsavantgarden tatsächlich zu einer bestimmten Negation vorgedrungen sind. Und vor allem, ob es letzteren nicht gerade deswegen gelungen ist, weil sie eine viel allgemeinere, eigentlich unbestimmte Negation anstrebten. You can’t bekanntlich always get what you want, wusste man damals, but you get what you need.

Diedrich Diederichsen, o. Univ. Prof., Professor an der Akademie der Bildenden Künste, Wien, lebt in Berlin und Wien. Redakteur von Musikzeitschriften.
Letzte Veröffentlichungen: “Stein Schere Papier”- Ausstellungskatalog (Co-Hg.) (Graz/Köln 2009), ”Über den Mehrwert (der Kunst)”, (Berlin/Rotterdam 2008), “Eigenblutdoping – Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation” (Köln 2008), “Kritik des Auges – Texte zur Kunst” (Hamburg 2008), “Argument Son” (Dijon 2007), “Golden Years” (Co-Hg., Graz 2006), “Musikzimmer” (Köln, 2005), “Personas en loop” (Buenos Aires, 2005).